Das Damoklesschwert des Vorwurfs der progressiven Kundenwerbung (§ 16 Abs. 2 UWG) schwebt in Deutschland über nahezu jedem MLM-Unternehmen. Wie unsicher die rechtliche Lage tatsächlich ist, zeigen 2 Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main, welche unsere Kanzlei im Auftrag unserer Mandantin jüngst führte. Gegenstand war jeweils der Vorwurf der progressiven Kundenwerbung gegen Vertriebspartner eines US-Amerikanischen MLM-Unternehmens. Obwohl es in beiden Verfahren um ein und den selben Marketingplan ging, entschied sich eine Kammer des Landgerichts gegen ein Verbot, eine andere Kammer hingegen dafür.

Die Kammer, die sich gegen ein Verbot entschloss (Urteil vom 19.11.2010, AZ 3-12 O 108/10), argumentierte wie folgt:

„Bei Systemen der progressiven Kundenwerbung steht nicht der Absatz einer Ware an Außenstehende im Vordergrund, sondern der Verkauf in der Struktur bzw. der Aufbau einer Käuferpyramide. Das System ist – anders als das System des Multi-Level-Marketing – auf das Geschäft mit den neu in die Struktur des Systems Eingetretenen ausgerichtet. Eine realistische Chance zur Amortisation ihrer Anfangsinvestition und der Realisierung von Gewinnen haben neue Teilnehmer nur, wenn es ihnen gelingt, weitere Personen zum Systembeitritt zu bewegen. Die Abgrenzung zu zulässigen Systemen des Multi-Level-Marketing orientiert sich daran, ob das System auf den Verkauf an Strukturfremdeausgerichtet oder das Ziel in erster Linie die Tätigung von Umsätzen Innerhalb der Struktur ist.
Die XY-Systemkonzeption ist nach dem Glaubhaftmachungsstand primär auf den Verkauf an Strukturfremde gerichtet und weniger auf die Tätigung von Umsätzen innerhalb der Struktur.
Die Ziffern 01 und 02 des XY-Vergütungsplans weisen darauf hin, dass die erste Komponente der Grundlage des Geschäfts der Direktverkauf des Distributors an die Endkunden ist. Der Distributor muss nicht aktiv oder qualifiziert sein, um Gewinne aus Verkäufen an Einzelhandelskunden oder Preferred Customers zu gewinnen. Die Einkommensübersicht Mitte 2009 zeigt, dass etwa 50 % der XY-Distributoren einfache Vertriebspartner ohne Qualifikation sind. Der Systembeitritt wird nicht von einem förmlichen „Eintrittsgeld“ abhängig gemacht. Es besteht keine Pflicht zur Mindestabnahme von Produkten (sog. pipeline-filling). Es gibt Vorkehrungen, dass nicht über den möglichen Bedarf hinausgehende Warenmengen abgenommen werden. Es soll nur die Warenmenge abgenommen werden, an der der Distributor ein wirtschaftliches Interesse hat. Eine Vorratshaltung soll dadurch vermieden werden; die Lagerhaltung ist verboten. Das Erkaufen von Rängen ist untersagt, Mitarbeiterstatus und Produkterwerb sind nicht untrennbar miteinander gekoppelt. Der Bezug der Ware und ihr Verkauf an Einzelhandelkunden sind nicht daran gebunden, dass der Distributor aktiv oder qualifiziert ist. Wirbt er einen neuen Kunden als neuen Teampartner, verdient er zunächst einmal nichts, weil es keine Anwerbeprämie gibt, sondern erst dann, wenn der als Mitarbeiter geworbene Kunde seinerseits eine Verkaufstätigkeit aufnimmt. Eine Verpflichtung zur Anwerbung weiterer Mitarbeiter besteht nicht. Der Werber erhält lediglich die Möglichkeit, sich durch Anwerben von weiteren Absatzmittlern eine Provision oder einen sonstigen Vermögensvorteil zu verdienen, wenn diese später von sich aus Umsätze generieren. Das Bemühen, neue Distributoren zu finden ist gerade Strukturelement des zulässigen Direktvertriebs. Der Distributor muss an die über ihm stehenden Distributoren (up line) keine Vergütung abführen. Anhaltspunkt für überhöhte Einkaufspreise bestehen nicht.
Die Gesamtbetrachtung der XY-Systemkonzeption führt danach dazu, dass der XY-Vergütungsplan eher auf den Verkauf an Strukturfremde gerichtet ist und weniger auf Umsätze innerhalb der Struktur. Es handelt sich um eine zulässige Form des Multi-Level-Marketing.“

Die Kammer, die sich für ein Verbot entschied, beurteilte die Lage völlig anders (Urteil vom 10.11.2010, AZ 3-08 O 101/10):

„Ebenso wenig ist die Anwendung des § 16 Abs. 2 ausgeschlossen, weil der BONUS A und der BONUS B nur 2 von mehreren Möglichkeiten sind, als Vertriebspartner eine Provision zu verdienen. Denn § 16 Abs. 2 UWG gilt nicht nur für solche Vertriebssysteme, die ausschließlich progressive Elemente enthalten. Vielmehr genügt es, wenn weitere Abnehmer regelmäßig, nicht notwendigerweise gerade durch das ln-Aussicht-Stellen besonderer Vorteile zur Abnahme veranlasst werden sollen (Bornkamm, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Aufl., § 16 R. 41). Dies ist in Form des BONUS A und BONUS B der Fall.
Denn die Höhe beider Boni hängt vom Umfang der Abnahme von XY-Produkten durch den geworbenen Verbraucher ab.
Zwar kann ein Käufer von XY-Produkten auch dadurch Geld verdienen, indem er die Produkte zu Großhandelspreisen einkauft und zu Einzelhandelspreisen weiter verkauft (Nr. 01 des Vergütungsplans), wobei dem Abnehmer Letzteres erst einmal gelingen muss, die Produkte zu einem höheren Preis als dem Großhandelspreis von fast XX € pro Flasche weiter zu verkaufen.
Darüber hinaus kann ein Abnehmer auch dadurch einen Bonus verdienen, dass erweitere Abnehmer wirbt und bei XY registrieren lässt (sog. Vorzugskunde gem. Nummer 01 des Vergütungsplans) und diese Vorzugskunden ihrerseits Produkte bei XY zu Großhandelspreisen kaufen. Beide Verdienstmöglichkeiten verstoßen nicht gegen § 16 Abs. 2 UWG. Insbesondere ist es nicht unlauter, wenn der Erwerb und die Höhe von Boni vom Umsatz Dritter abhängen.
Aber der Erwerb und insbesondere die Höhe von Boni ist nach dem Vergütungsplan von XY nicht nur vom Umsatz der geworbenen Vertriebspartner/Vorzugskunden abhängig, sondern nach Nr. 03 und 04 des Vergütungsplans auch von der Abnahme von XY-Produkten durch den Verbraucher, der mit seinem Beitritt zum Vertriebspartner wird. Wenn dieser nämlich selbst mit XX PV (= Bestellung von XY-Produkten in Höhe von mindestens XX €) oder XX PV (= Bestellung von XY-Produkten in Höhe von XX €) aktiv ist, erhält er zusätzlich nach Nummer 03 bzw. 04 Provisionen, die zum einen vom Umsatz des geworbenen und gelisteten Vorzugskunden und zum anderen von der Abnahme von XY-Produkten des werbenden Vertriebspartners, der zum Zeitpunkt des Beitritts zum Vertriebssystem von XY noch Verbraucher war, abhängen. Damit wird ein nicht unerheblicher Anreiz geschaffen, dass der geworbene Verbraucher möglichst viel XY-Produkte, mindestens im Wert von XX PV, abnimmt, um die Chance zu haben, einen möglichst hohen BONUS A und BONUS B zu erzielen, indem er selbst weitere Verbraucher veranlasst, XY-Produkte abzunehmen. Den so geworbenen Verbrauchern werden wiederum die gleichen besonderen Vorteile (BONUS A und BONUS B) in Aussicht gestellt.
Danach schafft der Vergütungsplan von XY wegen des BONUS A und des BONUS B einen Anreiz für Verbraucher, Produkte über den eigenen Bedarf abzunehmen in der Hoffnung, dadurch in den Genuss des BONUS A und des BONUS B zu kommen, so dass der Vergütungsplan zwei Elemente mit glücksspielartigem Charakter enthält, weil der geworbene Verbraucher erst einmal Vorzugskunden werben muss, um XX bzw. XX Einheiten zu verdienen.
Dem kann der Antragsgegner nicht entgegenhalten, dass es keine Pflicht zur Mindestabnahme von XY-Produkten gebe und dem Vertriebspartner eine Lagerhaltung von Produkten untersagt sei, die über den persönlichen Bedarf zum Verbrauch und zum Absatz an weitere Kunden hinaus gehe. Zum einen gilt die Verpflichtung, keine Produkte über den persönlichen Bedarf zu lagern, erst, wenn der Verbraucher Vertriebspartner geworden ist und nicht schon beim erstmaligen Kauf, um den es im Rahmen des § 16 Abs. 2 UWG geht. Zum anderen genügt das Versprechen, zusätzliche Boni nach Nr. 03 und 04 verdienen zu können. Eine Verpflichtung zur Mindestabnahme ist nicht erforderlich, um einen Anreiz zu schaffen, Produkte über den eigenen Bedarf hinaus abzunehmen.

Der Antragsgegner kann in diesem Zusammenhang auch nicht auf die Einkommensübersicht verweisen. Soweit diese ein Verbraucher überhaupt zur Kenntnis nimmt, ist sie nicht geeignet, den über BONUS A und über BONUS B gesetzten Anreizen entgegen zu wirken. Denn ein vom Vergütungsplan angesprochener Verbraucher wird in erster Linie die Chance, über BONUS A und BONUS B zusätzliche Boni zu verdienen, im Blick haben.
Umgekehrt belegt diese Einkommensübersicht, wie unrealistisch es ist, dass ein Verbraucher durch die Abnahme von XY-Produkten im Wert von XX Einheiten (XX Einheiten als BONUS A und XX Einheiten als BONUS B) verdienen kann, wenn 50% der Vertriebspartner durchschnittlich nur XX Dollar im Monat verdienen. Vielmehr zeigt die Einkommensübersicht, dass der Verbraucher auf abgenommenen Produkten sitzen bleiben wird, wenn er XY-Produkte im Wert von XX PV einkauft.
Schließlich scheidet die Anwendung des § 16 Abs. 2 UWG nicht deshalb aus, weil der Vergütungsplan für die geworbenen Vorzugskunden und/oder Vertriebspartner keine Provisionen oder Boni verspricht. Denn dies ist kein progressives Element nach § 16 Abs. 2 UWG. Vielmehr geht es darum, den Verbraucher durch In-Aussicht-Stellen von besonderen Vorteilen zur Abnahme von Produkten zu veranlassen, die über seinen persönlichen Bedarf hinaus gehen. Letzteres ist gemeint, wenn in § 16 Abs. 2 UWG davon die Rede ist, „… wenn Sie andere zum Abschluss gleichartiger Geschäfte veranlassen.“ Insoweit geht es nicht darum, Vertriebspartner für das Multi-Level-Marketing-System von XY zu werben, sondern Verbraucher zur Abnahme von XY-Produkten zu veranlassen.
Schließlich führt die erforderliche Gesamtschau des Vergütungsplans von XY, für den der Antragsgegner warb, dazu, dass der Vergütungsplan wegen des BONUS A und des BONUS B insgesamt darauf angelegt ist, Verbraucher zu veranlassen, nicht nur eine Flasche XX zum eigenen Bedarf abzunehmen, sondern eine oder zwei Kisten des XX in der Hoffnung, dadurch und durch Werbung weiterer Verbraucher höhere Provisionen zu verdienen als nur den nach Nummer 01 versprochenen Bonus. Dies reicht im Hinblick auf den Schutzzweck des § 16 Abs. 2 UWG, Verbraucher vor Vermögen schädigenden Mitteleinsatz zu bewahren, aus, um den Vergütungsplan insgesamt als progressive Kundenwerbung einzustufen.“
(Namen, Produkte und markante Merkmale des Marketingplans wurden von uns anonymisiert.)

Die letztendliche Entscheidung muss in beiden Fällen nun das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. treffen.